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Billy Bragg (1987)

AMIGA 856320
(1 Exemplar – eigene Sammlung)

Covertext

Wer erinnert sich nicht des sympathischen jungen Engländers mit der expressiven Stimme im echten Londoner Cockney Englisch und der E-Gitarre, der 1986 zu zwei Gastspielen in der DDR weilte?

Nun liegt mit dieser Veröffentlichung auch eine Platte von ihm vor, die die Songs seiner dritten LP, „Talking With The Taxman About Poetry“, auf sich vereinigt – nach dem Urteil vieler Kritiker seine bislang reifste Leistung. Sie hat ihm dann auch den Ruf eines „Folk Hero“ der britischen Arbeiterjugend eingebracht, und das nicht zu Unrecht.

Billy Bragg wurde am 20. Dezember 1957 in Barking, einem Stadtteil im Londoner East End, geboren. Die triste Realität des Londoner Ostens mit den endlosen Straßenzügen aus zum Verwechseln gleicher zweistöckiger billiger Reihenhäuschen in rötlichem Backstein, seit Generationen das Domizil der britischen Arbeiterklasse, ist bis heute seine Heimstatt geblieben. Hier sind seine Lieder verwurzelt. Als er die Schule beendet hatte, sah er sich einem Schicksal konfrontiert, das seither Millionen britischer Jugendlicher mit ihm teilten – Arbeitslosigkeit. Er schlägt sich mit Kurzzeitjobs durch, als Aushilfe an Tankstellen, als Bankbote und schließlich stundenweise als Verkäufer in einem Schallplattengeschäft. Das war zu einer Zeit, als die englische Musikszene durch den Punk Rock in ihren Grundfesten erschüttert wurde. Auch Billy Bragg sah in dem neuen Musikkult eine Chance, seinem Leben einen Sinn zu geben,[.] 1977, auf dem Höhepunkt der Punk-Weile, gründet er Riff Raff, eine Rhythm & Blues inspirierte Punk Band. Obwohl er es damit bis zu einer Plattenveröffentlichung bringt, blieb das Unternehmen glücklos. Die Band fällt 1981 auseinander, einen Berg von Schulden hinterlassend. Billy Bragg, enttäuscht und frustriert sowie ohne jede Aussicht auf einen Arbeitsplatz, verpflichtet sich als Soldat in die Armee Ihrer Majestät. Es brauchte nicht mehr als drei Monate um herauszufinden, daß dies der wohl größte Fehler seines Lebens gewesen war. Wieder auf der Straße war er um eine Erfahrung reicher, die seine Haltung zu politischen Fragen entscheidend geprägt hat. Wie kein anderer britischer Rockmusiker wird er sich später in vielen seiner Lieder (u. a. ‚Between The Wars“, „Like Soldiers Do‘, „Help Save The Youth Of America“) mit Nachdruck und Konsequenz immer wieder zur Friedensproblematik äußern.

Doch zunächst stand er erst einmal erneut vor der Frage „Was tun?‘ und entschied sich schließlich, es fortan als Musiker im Alleingang zu versuchen. Sich selbst mit einer E-Gitarre begleitend zog er als eine Art Ein-Mann-Punk-Band zwischen 1981 und 1983 Abend für Abend durch die Klubs und Kellerkneipen des Londoner East End. Zu Auftritten nach außerhalb fuhr er mit Bus oder Bahn; zurück ging es noch in derselben Nacht, denn für eine Übernachtung reichte die bescheidene Gage nie, sofern sie nicht ohnehin nur aus ein paar Sandwiches für den leeren Magen bestand. Je mehr er zu sehen bekam, desto genauer wurden seine Songs – sozial konkreter und politisch direkter. Während in Großbritannien inzwischen längst die New Romantic-Welle und in ihrem Gefolge der Synthi- und Techno-Pop den Punk Rock ins Hinterland der Popmusikgeschichte abgedrängt hatten, stellte Billy Bragg seine rauhen und sperrigen Songs unerschütterlich jedem Trend entgegen. Als dann im November 1983 Andy Macdonalds Mini-Label „Go! Disc“ die Demo-Aufnahmen von sieben seiner Songs als Mini-Album unter dem Titel „Life’s Riot With Spy us Spy“ herausbringt, wurde das britische Musikgeschäft um eine Sensation reicher. Ohne jede Promotion und fernab vom geschäftigen Getriebe der Pop-Medien erreichte diese Platte Verkaufszahlen, die aufhorchen ließen. Billy Bragg – statt es sich nun unter der Sonne des Erfolgs Wohlsein zu lassen – nutzt seine rasch wachsende Wirksamkeit für politische Aktivitäten, die seinen Namen schnell zu einem Symbol für den politisch aktiven Teil der britischen Musikerschaft werden lassen. 1984, während des großen Bergarbeiterstreiks, spielt er unermüdlich auf Benefizkonzerten, um die Löcher in den Streikkassen füllen zu helfen. Der Song „There Is Power In A Union“ entsteht in diesem Zusammenhang. Im März 1985 startet er eine mehrwöchige Tournee durch Großbritannien, die er unter das Motto „Jobs For Youth“ stellt, damit eine Kampagne der Labour Party gegen die Massenarbeitslosigkeit in seinem Land unterstützend. Im Januar 1986 formiert er „Red Wedge“ (Roter Keil), ein lockerer Zusammenschluß der politischen Aktivisten unter den britischen Rockmusikern – darunter Paul Weller, The Communards, The Smiths und Madness -, um der Labour Party in ihrem Wahlkampf gegen die konservative Thatcher-Regierung beizustehen. Seine „Red Wedge“-Tourneen haben die Wiederwahl von Margret Thatcher 1987 zwar nicht verhindern können, dafür aber ein gehöriges Maß an politischer Bewußtheit in die britische Arbeiterjugend hineingetragen. Davon zeugen auch die Lieder dieser Platte, die 1986 entstanden sind, nachdem es 1984 unter dem Titel „Brewing Up With Billy Bragg“ noch eine weitere spektakuläre Veröffentlichung von Billy Bragg-Songs gegeben hatte.

Billy Bragg, der immer noch allein mit seiner E-Gitarre auftritt und sich nur gelegentlich von einer Band begleiten läßt, hat in den sparsam instrumentierten Titeln dieser Platte ein Bild Großbritanniens gezeichnet, das die subjektive Erfahrung gelebter Alltäglichkeit auf geradezu meisterhafte Weise mit der politischen Appellfunktion verbindet – sei das die poetisch ungemein treffende Schilderung der apolitischen Häuslichkeit britischer Arbeiterfamilien, die gar keinen anderen Schluß mehr zuläßt, als sich endlich zu engagieren („The Home Front“); oder seien es die rauhen Liebesgeschichten („Greetings From The New Brunette“, „The Warmest Room“), die in einen Alltag eingebettet sind, der nach Veränderung förmlich schreit. Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, daß Billy Bragg in die Reihe der ganz großen britischen Songschreiber gehört, dann liegt er mit den Liedern dieser Platte vor.

Peter Wicke (1987)

Titelliste

A1 – Greetings From The New Brunette – 3:31

A2 – Train Train – 2:12

A3 – The Marriage – 2:32

A4 – Ideology – 3:27

A5 – Levi Stubb’s Tears – 3:32

A6 – Honey, I’m A Big Boy Now – 4:05

B1 – There Is Power In A Union – 2:48

B2 – Help Save The Youth Of America – 2:48

B3 – Wishing The Days Away – 2:29

B4 – The Passion – 2:55

B5 – The Warmest Room – 3:57

B6 – The Home Front – 4:09

Kompositionen, Texte und Arrangements: Billy Bragg
Titel 2: DeFleur; Titel 7: Traditional / Bragg

Übernahme von Billy Bragg Management London / England

VEB DEUTSCHE SCHALLPLATTEN BERLIN DDR
Made in the German Democratic Republic

Fotos: Thomas Otto
Gestaltung: Elans Wunderlich
Lithografie und Druck: VEB VMW „Ernst Thälmann“, Werk Gotha-Druck
Ag 511/01/88/A Verpackung nach TGL 10609

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